Ich hatte noch nie Angst in der Natur. Kein Abgrund ist mir zu tief, kein Sprung zu weit, kein Weg zu steil für mich. Unbeschwert lasse ich beim Wandern den Tag auf mich zu kommen, schaue nur links und rechts, um Blumen am Wegrand zu betrachten, und gehe meinen Rhythmus. Doch der Text der NZZ-Journalistin Nadine A. Brügger von vergangener Woche lässt mich meine Einstellung hinterfragen.
In eindrücklichen Worten schildert sie eine Wanderung, die zum Albtraum wurde. Schuld ist kein Schlechtwetterumschwung, kein gebrochener Fuss oder wütendes Wildschwein – Brügger wurde auf ihrer Wanderung von einem Unbekannten verfolgt. Die ganze Geschichte lest ihr am besten selbst (https://www.nzz.ch/feuilleton/das-spiel-heisst-mach-ihr-angst-ld.1668561). Was Brügger erzählt, lies auch mir das Blut in den Adern gefrieren. Werde ich im Ausgang oder auf der Strasse dumm angemacht, bin ich die Erste, welche die Worte findet, um für mich einzustehen. Auch wenn ich finde, keine Frau sollte diesen Skill beherrschen müssen, weiss ich mich zu verteidigen. Starrt mich ein Mann in einem Café an, starre ich zurück, bis er sich beschämt abwendet. Lieber einmal zu viel als zu wenig greife ich ein, wenn ich sehe, dass sich eine andere Frau in einer unangenehmen Situation befindet. Ich zeige keine Angst, denn wer Angst hat, macht sich zu leichter Beute. In meinem Alltag kämpfe ich um das Gleichgewicht zwischen starker und emanzipierter Frau, empathischer Kollegin und ein liebenswertem Mädchen. In den Bergen will ich einfach ich sein. Auf mein Innen fokussiert Schritt für Schritt den Berg hinauf gehen. Vielleicht sollte ich jedoch nach dieser Geschichte wachsamer sein. Rücksicht nehmen, dass es in der Männerwelt verquere Exemplare gibt, denen es Spass bereitet, Frauen Angst einzujagen. Weniger naiv sein und akzeptieren, dass der Mensch es schafft, selbst die unberührtesten Orte zu verderben. Vielleicht sollte ich darauf verzichten, allein auf Touren zu gehen, am besten immer einen männlichen Beschützer dabei haben. Vielleicht sollte ich all das, aber ich will keine Angst haben. Nicht vor dem streunenden Wolf. Doch damit das geht muss ich vorbereitet sein, immer das geladene Handy in Griffweite, keine Kopfhörer auf den Ohren, die Freunde, die wissen, wo ich gerade unterwegs bin. Das ist also der Preis für meine letzte Freiheit. Aber ich habe keine Angst. Denn die Angst macht mich zur leichten Beute für den einsamen Wolf.
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